Neu: Zur virtuellen Ausstellung über Kurt Schwaen

 

Oper (CD »Leonce und Lena«)

Kurt Schwaen: Leonce und Lena. Eine heitere Oper nach dem Lustspiel von Georg Büchner

Eine heitere Oper?

(Auszug aus dem Booklet-Text)

(...) Die Geschichte von Leonce und Lena, wie sie Georg Büchner erzählt, ist mehr als ein Märchen: Sie ist ein Gleichnis mit einem realen gesellschaftlichen Kern. Hinter Scherz, Satire und Ironie steckt tiefere Bedeutung. Das Romantische dient hier nur als Maske. Auf exaltierte Gefühle, pathetische Ausbrüche folgt sogleich Ernüchterung durch Ironisierung. Und doch dringt durch diese Maske echtes Gefühl. Der vollen Verwirklichung des Menschseins stehen indes gesellschaftliche Konventionen entgegen, die aus Menschen Marionetten machen. Was aber, wenn die Konventionen eines Tages entthront sein werden? Das wahre Bild des Menschen wird hinter der Maske sichtbar.

Kurt Schwaen war es in seiner Vertonung gerade um diese Tendenz zu tun:

»Ich habe es als meine Aufgabe angesehen, in der Musik zu ‚Leonce' das Menschliche herauszuheben. Was die drei Hauptfiguren auszeichnet, ist ihre Jugend, und die lässt uns hoffen.«

Georg Büchner schrieb Leonce und Lena im Sommer 1836 für ein Preisausschreiben des Stuttgarter Verlags Cotta. (...)

Die Handlung ist rasch erzählt: Der Prinz und die Prinzessin sollen, ohne sich je gesehen zu haben, verheiratet werden. Vor ihrem Schicksal fliehend, lernen sie sich als Unbekannte kennen. Sie lieben sich. – Wie paradox: Nun stünde einer Heirat die Standeskonvention entgegen. Valerio weiß Rat. Er stellt Leonce und Lena dem König als Automaten vor. Der König hat den Termin der Hochzeit festgesetzt, muss aber eine Blamage fürchten, weil das Brautpaar fehlt. In den Automaten sieht er seine Rettung. Er verbindet das verschwundene Brautpaar »in effigie« – symbolisch, sinnbildlich -, indem er die Automaten trauen lässt. Welche Überraschung, als die Masken fallen!

In dem merkwürdigen Happy-End liegt bittere Ironie, Menschen müssen sich als Automaten ausgeben, um ihren Gefühlen folgen zu können. Diejenigen, die Mensch zu sein glauben, sind aber in Wahrheit Automaten, kalt, gefühllos. Liebe wird in dynastischen Interessen diktiert. Wenn sie sich dagegen auflehnt, wenn sie frei der Neigung nachgibt, gilt sie als suspekt. Die Lösung, die das Stück anbietet, hebt gerade durch ihre märchenhafte Unwahrscheinlichkeit das Problem nicht auf, sondern verschärft es.

Leonce und Lena, 1960 entstanden, ist Kurt Schwaens erste Oper. Er hat sich selbst Büchners Lustspiel als Libretto eingerichtet: dabei die Fabelführung wahrend – nur straffend und kürzend -, auch die Sprachform nicht antastend. Der einzige Einschub ist eine kurze Passage aus dem Hessischen Landboten, Valerio in den Mund gelegt. Mit diesen offen anklagenden Worten fällt Valerio zwar aus seiner Rolle als Possenreisser, deutet aber gerade dadurch auf den Ernst, der seinen Späßen innewohnt. Schwaen nennt Leonce und Lena eine »heitere Oper«. Die Heiterkeit erscheint freilich nur selten unverstellt, sondern in ironischer Brechung als Entsprechung zum Wort. Andererseits liegt über ernsten, innigen Stimmungen oft ein Schimmer Parodie. Aber Schwaen hütet sich vor Extremen; er treibt die Satire nicht bis zur Karikatur und lässt emotionale Spannung nicht zum Pathos verdicken. Das Temperament wird bei ihm vom Intellekt beherrscht.

Das zeigt sich auch in der Architektur und Faktur dieser Oper. Die achtunddreißig Szenen, in die sich die Handlung gliedert, sind musikalisch in sich geschlossen. Schwaen vertont nur, was nach Musik verlangt; Sprechpartien wechseln mit Musiknummern. Zwischenform sind Melodramen und Rezitative. Die Musik drängt sich nicht selbstherrlich hervor, sondern fühlt sich stets dem Wort verpflichtet, es veranschaulichend und erklärend. Der Herausstellung des Wortes entspricht die Konzentrierung auf den Gesang. Aber auch der Gesang meidet alle Selbstgefälligkeit; er beschränkt sich oft auf schlichteste Deklamation, um den Wort-Sinn nicht zu verdecken. Das Orchester gibt die unaufdringliche instrumentale Folie. Seine Genügsamkeit zeigt sich schon an seiner Besetzung; Streicher, einfaches Holz, Cembalo. Dabei ist die Musik keineswegs bloße Zutat; sie verdeutlicht und deutet Situationen, Charaktere und Gesten, erschließt verborgene Dimensionen des Textes, fixiert Haltungen des Publikums. Sie zieht ihre Wirkung gerade aus der Aussparung, dem Weglassen, der Verdichtung.

Das Sujet legt musikalischen Märchenton nahe. Jedoch durfte die Hintergründigkeit des Geschehens durch die Musik nicht verniedlicht werden. Schwaen sieht im Volkslied ein dem Märchen adäquates musikalisches Gestaltungsmittel. Wichtiger, als die Gestalt des Volkslieds nachzuahmen, erscheint ihm, dessen Gehalt zu erfassen. Volksliedintonation dringt hier auch in Formen ein, die nicht im engeren Sinn liedhaft sind. Die musikalische Sprache baut zwar auf den vertrauten Elementen auf, bringt sie aber in neuartigen syntaktischen Zusammenhang: Umgangsmässiges verbindet sich mit Stilisiertem, Historisches mit Modernem. In den Verzeichnungen der den Intonationen üblicherweise zugeordneten Syntax äußert sich Distanz und Kritik. Schwaen fasst das Märchen musikalisch als ein Gleichnis auf und fühlt sich zu Aktualisierung berechtigt, ja genötigt. Seine Musik hilft, den doppelten Boden der Vorgänge und Worte zu enthüllen.

Georg Büchner hat dem ersten Akt seines Lustspiels ein Zitat aus Shakespeares Wie es euch gefällt vorangesetzt: »O wär ich doch ein Narr! Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke!« Büchner nutzt das Narrenkostüm, um sich die Freiheit zur Wahrheit zu verschaffen. Kurt Schwaen gibt in seiner heiteren Oper dem Spaß genügend Raum. Aber er vergisst darüber nicht die tiefere Bedeutung, den politischen Bezug, den aktuellen Wert.

Fritz Hennenberg

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